Donnerstag, 7. April 2011

Der Kommende Aufstand

Mein Freund meinte gestern Abend am Telefon zu mir, er habe meine letzten Blogeinträge sehr gern gelesen, fände aber den Begriff des Rechtsstaates im Zusammenhang mit der Kohlhaasgeschichte etwas irritierend. Der Einwand ist im historischen Sinn nicht von der Hand zu weisen, schließlich spielt die Erzählung im 16. Jahrhundert, da gab es den Rechtsstaat, wie wir ihn heute kennen, noch nicht. Und doch geht Kohlhaas am Anfang der Geschichte davon aus, dass der Staat bzw. das Gesetz ihm Gerechtigkeit verschaffen und sein Eigentum schützen werde.
Davon gehen die Autoren des „Kommenden Aufstandes“ längst nicht mehr aus – weder empfinden sie den Staat als gerecht (sie meinen die europäischen Rechtsstaaten in der heutigen Form), noch halten sie viel vom Eigentum bzw. dem kapitalistischen Wirtschaftsystem. Am Anfang ihres Manifestes heißt es: „Aus welcher Sicht man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ohne Ausweg. (...) Denjenigen, die unbedingt hoffen möchten, raubt sie jeden Halt. Diejenigen, die vorgeben Lösungen zu haben, werden sofort entkräftet. Es ist bekannt, dass alles nur noch schlimmer werden kann.“ Der Staat hat in ihrer Analyse jede positive Zuschreibung verloren. Politiker agieren nur noch als „Hampelmänner“, die von Marketingabteilungen durchchoreografiert werden, die Institutionen des Staates (von der Schule, über das Arbeitsamt bis hin zum Polizeiapparat) sind Instrumente der Disziplinierung und Unterwerfung, sie schüren soziale Ungerechtigkeiten und entfremden in ihrer wirtschaftslobbyistischen Verklärung der flexiblen Arbeitswelt das Individuum von Heimat und seinen Mitmenschen. Und darüber hinaus - sobald es zu Unruhen und Demonstrationen wie in Frankreich oder Griechenland kommt, zeigt der Staat ein äußerst gewaltbereites Gesicht.
Das Manifest erschien zuerst 2007 in französischer Sprache, in den letzten zwei Jahren wurde es in verschiedene Sprachen übersetzt und fand zunächst über das Internet große Verbreitung. Inzwischen ist es auch in vielen Buchhandlungen zu finden. Die deutsche Ausgabe, die im Herbst 2010 erschien, wurde in sämtlichen Feuilletons rezensiert, die meisten Kritiker besprachen es als treffende Analyse eines gesellschaftlichen Unbehagens. Nur wenige Kritiker gingen auf die radikalen Schlussfolgerungen und die antidemokratische Haltung ein, die für die Autoren aus der Analyse folgen. „Man hat sich unserer Eltern bedient, um diese Welt zu zerstören, nun möchte man uns an ihrem Wiederaufbau arbeiten lassen, und der soll noch dazu profitabel sein. (...) Wir werden uns nicht von denen berauben lassen, die die Krise verursacht haben. Das "Ende der Zivilisation" geschehe! Auf dass wir früher als erwartet an die Grenzen der Ölreserven gelangen, auf dass wir einer großen sozialen Unordnung entgegengehen.“
Was passiert, wenn der Staat zunehmend als ungerecht und das Wirtschaftssystem als Form der Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Natur empfunden werden? Was passiert, wenn demokratische Werte nicht mehr glaubwürdig sind? Das „Unsichtbare Komitee“ spricht von einem Aufstand, von einem Krieg der Jugend gegen den Staatsapparat und die Vorstandsetagen. Demokratischen Entscheidungsprozessen können die Autoren nichts abgewinnen. Das ist beunruhigend. Aber auch die vielen positiven Reaktionen auf das Manifest und die Fragen, die damit einhergehen, sind beunruhigend. Und deshalb haben wir Teile aus dem „Kommenden Aufstand“ in die Textfassung genommen. In der Hoffnung, dass der Aufruf zur Zerstörung des bestehenden Gesellschaftssystems für alle Demokratiebefürworter im Publikum alarmierend wirkt und sie sich umso mehr für Reformen engagieren, die nicht im lateinischen Sinn auf die „Wiederherstellung alter Zustände“ abzielen, sondern auf eine gewaltlose Umgestaltung ungerechter Verhältnisse. Das mag in manchen Ohren nach einem äußerst naiven Handlungsoptimismus klingen, aber sei es drum.